Hinterm Horizont geht’s weiter – Buchvorstellung in der LVZ

Buchvorstellung in der Leipziger Volkszeitung (Leipziger Volkszeitung (LVZ))

von Mathias Wöbking, Freitag, 29. Mai 2015 (zur PDF)


 

Mehr als ein Buch: „Liebe mit Laufmaschen“ von Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch

(von Mathias Wöbking)

Es gibt da diesen Satz in einer der Kurzgeschichten, Dirk Rotzsch hat ihn aufgeschrieben:
„Wir leben zwar unter demselben Himmel, aber wir haben nicht den gleichen Horizont, der wird bestimmt
durch die Bildschirmdiagonale.“ Es ist ein kluger und trauriger Satz über Menschen, die ihr Leben vor dem Fernsehgerät verschwenden.
Lässt man den Teil mit der Diagonalen weg, beschreibt der Satz aber auch ziemlich genau das außergewöhnliche „Literatur- und Kunstprojekt“, dem er entstammt. Er drückt dann auf einmal aus, dass sich unterschiedliche Horizonte äußerst bereichernd auswirken können. Rotzsch hat den Geschichtenband „Liebe mit Laufmaschen“, zu dem eine CD und eine barrierefreie Internetseite gehören, zusammen mit Jennifer Sonntag konzipiert und verwirklicht. Die heute 35-Jährige hat mit 20 aufgrund einer Augenkrankheit ihre Sehkraft verloren – und ihren damaligen Horizont. Mittlerweile schafft sie es in ihren „SonntagsFragen“, einer monatlichen MDR-Fernsehsendung, dass auch die Prominenten, die sie interviewt, ihre Horizonte gelegentlich ein wenig verschieben.


Über einen eingeschworenen Fankreis verfügt die Sozialpädagogin aus Halle darüber hinaus dank ihrer erotischen Erzählungen nicht zuletzt in Leipzig. Dass sich Sonntag in der Gothic-Szene heimisch fühlt, schadet dabei nicht in der Stadt, die nicht nur zu Pfingstendunkel schimmert.
Auch Rotzsch, 45 und Küchenleiter in Halle, genießt als einstiger Keyboarder der Leipziger Bands Lament und RAUM41 (nicht nur) in der Düster-Nische einen hervorragenden Ruf. Dass er darüber hinaus Prosa schreiben kann, zeigte er 2006 mit seiner Novelle „Michel – Eine Generation frisst ihre Kinder“. Die erotischen Geschichten, der er zum Gemeinschaftsprojekt „Liebe mit Laufmaschen“ beiträgt, entfalten nun eine leicht zynische Schwermut. Eine Witwe entsorgt ihre selbstgedrehten Pornos, damit niemand die Filmchen findet, nachdem sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hat. Ein Einsamer will seine Todessehnsucht stillen, indem er sich absichtlich mit dem HI-Virus ansteckt. Ein Callboy blickt mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu – und dann doch unerwarteter Begierde – auf seine Kundinnen. Es ist eher die Last mit der Lust, die Rotzsch interessiert, Sonntags Texte hingegen atmen eine spitzzüngige Frivolität.
Packend und im besten Sinne schamlos erzählt sie beispielsweise von einer frustrierten Ehefrau auf Freiersfüßen oder einer Biedermeier-Oma mit einer abgründigen Vorliebe für Hintern. Sie schlüpft ins Gehirn einer Lehrerin, die sich auf Sex mit dem Mann ihrer Rektorin einlässt, und wird Zeugin einer ausschweifenden, bizarren Backstage-Party eines abgehalfterten Rockstars. Auch die Titelgeschichte stammt aus ihrer Feder, und es leuchtet ein, warum die Erzählung eine Sonderstellung erhält.
Eine Laufmasche im Nylon bricht die Perfektion durch einen Makel, der gleichsam Begehren weckt. Sonntag spielt in dem Text mit ihrem realen Dasein als MDRModeratorin. Die Vermutung, sie berichte von ihrem Berufsalltag, scheint zunächs naheliegend. Bis klar wird, dass ihr die Redaktion als Interviewgast diesmal die personifizierte Liebe vorsetzt. Ihre Liebe, um genau zu sein, eine verruchte Versionihrer selbst. „Sie sah mich an, als wäre ich die Frage auf all ihre Antworten.“ Als Gesamtkunstwerk ist die „Liebe mit Laufmaschen“, was auch Sonntags sonntäglicher Arbeitgeber sein will: trimedial.
Die beigelegte Hörbuch-CD enthält immerhin sieben der gut 20 Kurzgeschichten des Bandes. Einen tatsächlich neuen Horizont eröffnet darüber hinaus die „Blind-Galerie“ auf der Internetseite des Projekts. Mit Kreide, Kohle und Fasermalern haben Sonntag und Rotzsch die inneren Bilder, die die Geschichten in ihnen hervorrufen, gemeinsam auf Papier gebracht. Detaillierte – und sinnliche – Beschreibungen sollen die Zeichnungen auch für Blinde erlebbar machen.
Nächste „SonntagsFragen“: Sonntag, 9.45 Uhr, MDR-Fernsehen, Gäste: Wladimir Kaminer, Susanna Simon; www.liebemitlaufmaschen.de