„Menschen“ • DZB – Interview

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Kundenmagazin 03/2015

Schreiben ist wie sehen

Im Frühjahr dieses Jahres erschien Jennifer Sonntags neues Buch „Liebe mit Laufmaschen“, erotische Kurzgeschichten, die sie und ihr Partner Dirk Rotzsch in den letzten Jahren geschrieben haben. Gabi Schulze traf die Autorin in Leipzig.

Sie ist die Lady in Black – Jennifer Sonntag, blinde Sozialpädagogin, Autorin und MDR-Moderatorin der Sendung „SonntagsFragen“. Sie kleide sich immer in schwarz, erzählt mir die junge Frau, als ich sie und ihren Partner Dirk Rotzsch an einem heißen Julitag im spanischen Restaurant „Bustamante“ im Leipziger Westen treffe. In einer Stunde beginnt die Lesung ihres neuen Buches. Zeit genug für ein Gespräch mit der Autorin. Sie erscheint in einem schwarzen ärmellosen Minikleid, das sowohl im Dekolleté als auch auf dem Rücken tief ausgeschnitten ist, und nimmt auf einem braunen Ledersofa im Restaurant Platz. Zu ihrem Kleid trägt sie elegante schwarze Handschuhe und einen schwarzen extravaganten Hut im Stile der zwanziger Jahre. Schwarze Strümpfe und Lackschuhe vervollkommnen ihr perfektes Outfit.

Die Laufmasche als inspirierender Fehler

Jennifer Sonntag schmunzelt, als ich sie auf den originellen Titel des Buches anspreche, und meint: „Ich hätte mir eigentlich Laufmaschen ziehen sollen. Wenn man welche braucht, hat man keine.“ Und schon sind wir beim Thema: Sie interessiere sich für die Laufmaschen in den Lebensgeschichten der Menschen. „Meine Protagonisten haben alle kleine Ecken und Kanten“, bemerkt sie, „deshalb sind die Laufmaschen auch ein Symbol im Titel meines Buches“.

Jennifer Sonntag erzählt von obskuren Begebenheiten, skurrilen Situationen, vor allem aber von Menschen, die anders sind – in ihrer Lebensart, in ihren Anschauungen und Sichtweisen. „Im Grunde sind die Figuren in meinen Geschichten alle nicht normal. Ich bin ja auch nicht normal. Ich bin blind. Die Beziehung, die ich führe, hat auch eine kleine Laufmasche. Jede Partnerschaft, die aus einem sehenden und einem Nichtsehenden besteht, ist ein bisschen anders“, erklärt die junge Frau. Ihre roten Lippen lächeln auf ihrem dezent geschminkten Gesicht. Glatte Dinge langweilen sie, deshalb sucht sie nach Reibungspunkten, dem Widerhaken, der die Laufmasche erzeugt. Sie spinnt erotische Fäden, nicht um die Laufmasche zu stoppen, sondern auf diesen unerwarteten Riss aufmerksam zu machen. Ihre frivolen Geschichten haben oft einen doppelten Boden und irritieren zum Teil auch durch plötzliche Wendungen. Da verliert eine Frau immer wieder ganz subtil ihren Slip auf der Straße – aus Leidenschaft. Oder eine Sehende lebt ihre erotischen Träume als Blinde aus. Am Ende überrascht den Leser oft eine unvermutete, originelle Pointe.

Die Ich-Erzählerinnen leben ihre extravaganten Vorlieben im realen Leben selbstbewusst aus, andere wiederum sehnen sich in ihren erotischen Träumen nach Leidenschaft und Lust: eine Frau befreit sich mit ihrer Lust von inneren Zwängen, eine andere wiederum hat endlich den Mut, sich ihrer Begierde hinzugeben. Eine Lehrerin träumt vom Sex mit dem Mann ihrer unsympathischen Direktorin und eine andere Frau wird Zeugin einer exzessiven, bizarren Backstage-Party eines alternden Rockstars.

Zwischen Sehen und Nichtsehen

Jennifer Sonntag ist eine sensible Beobachterin. Gespräche von Menschen, die ihr begegnen, auch Situationen, die ihr widerfahren sind, greift sie auf, assoziiert echte Bilder dazu und beschreibt diese. „Ich schreibe recht ‚unblind‘, eigentlich sehend. Viele Dinge kann ich als ehemals Sehende nicht auffrischen: Ich kann mir keine erotischen Fotos und Filme anschauen. Die ganzen erotischen Medien funktionieren nicht mehr. Aber über mein Schreiben hole ich mir mein fehlendes Sehen zurück. Da kann ich mein eigenes Kino erzeugen und fantasiereich sein. Dadurch verlerne ich das Sehen nicht. Schreiben ist deshalb für mich wie Sehen.“

Die spät erblindete 35-Jährige, die früher der Punkszene nahestand und sich heute in der Gothic-Szene heimisch fühlt, hat viele Fans, die ihre erotischen Erzählungen lieben. Und welche Vorbilder hat Jennifer Sonntag in der Literatur? Anaïs Nin und Henry Miller natürlich. Sie habe aber auch viele Bücher aus der DZB gelesen, die nicht unter erotischer Literatur zu finden sind, wo Erotik aber immer mitschwingt: „Die Klavierspielerin“ von Elfriede Jelinek zum Beispiel oder Michel Houellebecqs Romane.

Extravagante Mode und Schminkkurse

Erotik in ihrem wahren Leben definiert Jennifer Sonntag ausschließlich über Stimme, Aura, Geruch, unsichtbare Schwingungen. Da ihr die echten Bilder fehlen, verlässt sie sich sehr auf Sinnlichkeit und Fantasie. Ein Hauch, eine Berührung, aber auch Intelligenz, Herzenswärme und Taktgefühl können für sie erotisch sein. Diese Freude an ab- und tiefgründiger Sinnlichkeit schwingt in ihren Geschichten immer mit. Sie ist eine Inspirationsquelle für die Autorin und fördert deren Kreativität. Eine zweite ist die Mode. Jennifer Sonntag geht gern in Modegeschäfte, sucht nach extravaganten Stilen, die aus der schwarzen Szene kommen. Ihr Modebewusstsein hilft ihr auch, den Kontakt zur Welt der Sehenden nicht zu verlieren, denn sie muss sich ständig über Farben, Formen und Trends informieren. Ihr Wissen gibt sie gern weiter, zum Beispiel in Schminkkursen für blinde Frauen. Mehr noch: Als Sozialpädagogin, die in der „Sensorischen Welt“ des BFW Halle tätig ist, bietet sie blinden und hochgradig sehbehinderten Rehabilitanden Imagekurse an, die diesen helfen, sich ein inneres Spiegelbild zu erarbeiten und ihr optisches Erscheinungsbild realistisch einzuschätzen.

Ein sehr sinnliches Kunstprojekt

Ihre Liebe zur Literatur und Kunst regte Jennifer Sonntag auch an, das erotische Literatur- und Kunstprojekt „Liebe mit Laufmaschen“ zu verwirklichen. Gemeinsam mit ihrem Partner Dirk Rotzsch entwarf die Autorin zu den über 20 Kurzgeschichten des Buches erotische Zeichnungen. Dieses sehr sinnliche Experiment war sowohl für die blinde Autorin als auch für ihren Partner eine große Herausforderung. Bildbeschreiberin Franziska Appel fasste die Zeichnungen in Worte und macht sie so auch blinden Betrachtern zugänglich. Jennifer Sonntag: „Ich möchte mich in den schönen Künsten noch ein wenig weiter ausleben, Malerei, Literatur und Erotik zusammenführen und dies möglichst barrierefrei. Ein Blick in die ‚Blind-Galerie‘ auf meiner Webseite www.Liebe-mit-Laufmaschen.de lohnt sich! Prüde darf man allerdings nicht sein.“

Im Restaurant wird es lauter, die Vorbereitungen für die kulinarischen Genüsse während der Lesung beginnen. Immer mehr Gäste kommen und begrüßen die Autorin. Ich wünsche Jennifer Sonntag eine gelungene Lesung und für ihre weiteren Projekte künstlerische Inspiration.

Lesung: Am 17. September 2015, um 20.15 Uhr stellen Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch in Lehmanns Buchhandlung in Leipzig ihr Buch „Liebe mit Laufmaschen“ vor. Die Lesung wurde gemeinsam von der Buchhandlung und dem Förderverein „Freunde der DZB e.V.“ organisiert.
„SonntagsFragen“: Einmal im Monat, sonntags um 9.45 Uhr im MDR, lädt Jennifer Sonntag prominente Gäste zu ihrer Sendung ein.

Fünf Fragen an Jennifer Sonntag

Wie würden Sie sich selbst beschreiben?
Ich bin tiefgründig, sinnlich, manchmal zu fühlend, extrem rückzugsbedürftig, humorvoll, kreativ, unkonventionell, kommunikativ, ruhelos …

Welches Buch würden Sie gern ein zweites Mal lesen?
„Die Stadt der Blinden“

Was ziehen Sie am liebsten an?
Extravagante Outfits mit Zitaten aus der Gothic-Szene.

Welchen prominenten Gast hätten Sie gern mal in ihrer Sendung „SonntagsFragen“? Und warum?
Ich habe Angst, mir Illusionen zu zerstören, wenn ich mir ein absolutes Mega-Idol auf den Stuhl hole. Ich habe an anderen Menschen beobachtet, wie so etwas schief gehen kann, deshalb lasse ich die Finger von „Stars“, zu denen ich seit 30 Jahren innerlich eine einseitige Liebesbeziehung habe … (witzig gemeint)

Welcher Gast in Ihrer Sendung hat Sie am meisten zum Nachdenken angeregt? Und warum?
Mark Benecke. Er ist sehr professionell in seinem Job und dabei ein total unkonventioneller Mensch. Außerdem teilen wir eine Subkultur. Das ist ein Typ, der meinen Geist einfach immer wieder unheimlich infiziert, weit über das Interview hinaus.