T-Arts – Magazin für (Alternativ)Kunst und (Sub)Kultur

Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch – Liebe mit Laufmaschen | T-Arts

Von Edith Oxenbauer (Rezension) – 22. September 2015

Das Titelbild dieses Buchs zog meinen Blick an: knallroter Nagellack im Flacon, teilweise ausgelaufen auf weißem Grund. Das wirkt. Die Namen der Autoren nehme ich erst viel später wahr und bin überrascht: sind mir beide doch nicht unbekannt.

Jennifer Sonntag hat eine eigene Fernsehsendung „Sonntags Fragen“ beim MDR, ist Sozialpädagogin, schreibt für Fachzeitschriften. Ist Autorin von Büchern und Hörbüchern. Und sie ist blind.
Dirk Rotzsch gehört zur Leipziger Indie-Band „Raum 41“, ist als Koch tätig und schreibt u. a. für die LVZ und diverse Musikzeitschriften.

Der Klappentext:
„Erotische Geschichten fernab von Porno und Kamasutra
Sie sitzt am Straßenrand und wartet auf Kundschaft. Ihre Lippen sind rot, die Wimpern schwarz getuscht, das Korsett geschnürt und die Beine gestrapst. Doch vom vielen Sitzen auf Bordsteinen, dem ständigen Aus- und Anziehen und den unzähligen Ecken und Kanten, an denen sie sich stößt und aufreibt, zieht sich so manche Laufmasche über ihre Beine. Doch das ist noch lange kein Grund aufzuhören. Denn sie hat Spaß an ihrem Job …

Angetrieben von Liebe, Rache und Sehnsucht suchen Menschen nach Freiheit und der Befriedigung ihrer teilweise extravaganten Vorlieben. Sie finden sie in Fetisch-Clubs oder auf der Toilette oder ganz einfach im heimischen Schlafzimmer…“

Erotische Kurzgeschichten? Oh ja, und zwar sehr erotisch. Für „Pastorentöchter“ wohl ungeeignet. Biologisch gesehen bestimmt Sex unsere Existenz, unser Leben. Doch Erotik ist viel mehr. Verdrängte oder die „falsche“ Erotik kann die Seele, die Empfindungen eines Menschen zerstören, behindern. Und eigentlich geht es in diesen erotischen Geschichten auch mehr um Empfindungen, um Gefühle, um Verstecktes, Verdrängtes oder auch Ausgelebtes. Wie sagte der Olle Fritz? Jeder soll nach seiner Façon selig werden. Und genau darin liegt eine Grundaussage der Erzählungen. Nach „seiner“ Façon. Doch nicht jeder weiß, was seine eigene Façon ist. Mancher ist ein Leben lang auf der Suche.

Die titelgebende Geschichte „Liebe mit Laufmaschen“ ist ein fiktives Interview der etwas verklemmt scheinenden Protagonistin mit ihren eigenen frivolen Gefühlen und Sehnsüchten. Und dieser Zwiespalt zieht sich wie ein roter Faden durch alle Erzählungen. Gelebte Erotik und gelebte Liebe.
Traut sich wirklich jeder, die Barriere aus „Anstand, Moral und das-tut-man-nicht“ zu überwinden? Zunächst einmal wenigstens gedanklich? So kurz ist das Leben und so wichtig ist Liebe. Die kleinen Geschichten lösen diverse Gefühle aus. Sinnliche allemal. Die schier unendliche Phantasie und Bandbreite der ausgeloteten Gefühle überwältigt.

„In unserem Inneren machen wir einen Gegenstand durch unsere persönliche Betrachtung zu dem, was er ist. So stellt die Laufmasche für uns einen inspirierenden Fehler dar, welcher dem perfekten Entwurf entgegensteht. Der unerwartete Riss macht mit seiner Metaphorik aus unserer Sicht eine Person oder Situation erst erzählenswert.

Wir interessieren uns für die symbolischen Laufmaschen in den Lebensgeschichten der Menschen und die erotischen Fäden, die sich mit ihnen entspinnen. Dabei reizt es uns, doppelte Böden und überraschende Wendungen zu entdecken. Für uns erscheint nicht nur die Laufmasche spannend, sondern auch der Widerhaken, der sie zieht. Die erotischen Motive in unseren Texten und Zeichnungen sollen also immer auch Fragen aufwerfen. Außerdem möchten wir unsere Leser und die Besucher unserer Homepage herzlich dazu einladen, zwischen Sehen und nicht Sehen, zwischen Wahrnehmung und Wahrheit, auf die Suche nach der eigenen Wirklichkeit zu gehen.“

(» Liebe mit Laufmaschen)

Jennifer Sonntag ist vor Jahren erblindet. Doch sieht sie mehr, als die meisten, die mit ihren Augen alles erblicken – aber wohl nicht erfühlen. Vielleicht bedarf es der Konzentration ohne visuelle Wahrnehmung, um die Welt, die Menschen, die Gefühle zu erfahren statt zu sehen. Diese Tiefe ihrer Wahrnehmung hat meine größte Bewunderung.

„Liebe mit Laufmaschen“ ist auch eine Würdigung des Unperfekten. Eben wie schicke Strümpfe mit Laufmaschen. „Die Laufmasche kann dabei durchaus als verstecktes Symbol für Behinderung verstanden werden, sie stellt aber auch immer eine Inspiration dar, denn das vermeintlich ‚unperfekte‘ macht für uns einen Menschen erst erotisch interessant.“
Im Kurzgeschichtenbuch hat jeder Protagonist irgendeine „Macke“, eine „Laufmasche“: eine Besonderheit im Leben, einen Fetisch, einen inspirierenden Fehler – eine sexuelle Vorliebe, die halt etwas „anders“ ist.

Und wem jetzt der Zusammenhang zum Titelbild nicht schlüssig ist: früher, sehr viel früher, gab es kleine Läden, in denen Laufmaschen in Strümpfen „aufgenommen“ – also repariert – wurden. Hatte man sich eine Laufmasche eingefangen, tupfte man auf Anfang und Ende etwas Nagellack, damit sie sich nicht noch vergrößern konnte.

ISBN: 978-3-940767-87-1
Edition Periplaneta (Homepage)

Diese Kurzgeschichtensammlung enthält eine CD mit von Sarah Strehle, Marion Alexa Müller und Thomas Manegold eingesprochenen Geschichten und einer barrierefreien Textversion des kompletten Buchinhalts.