Jennifer Sonntag im Interview für die Sächsische Zeitung

Eine Frage der Beleuchtung

(von Christina Wittich im Dez. 2017)


Jennifer Sonntag sitzt bereits im Hallenser Café nt. Das Café liegt im Zentrum der Stadt, der Weihnachtsmarkt lockt Besucher. Das Café hatte die Moderatorin ausgesucht, weil es ruhig sei. Ein Summen und Rauschen durchdringt den Raum, Gesprächsfetzen, der Milchschäumer an der Kaffeebar zischt. Jennifer Sonntag hat Probleme, sich zu konzentrieren. Die 38-Jährige ist blind. Für die mdr-Sendung „Selbstbestimmt“ befragt sie Prominente. Ihr Partner begleitet sie an diesem Tag. Vor Beginn des Interviews lässt sie sich fotografieren. Jennifer Sonntag ist unsicher. Sie kann nicht entscheiden, welches der Bilder ihren Vorstellungen von sich selbst entspricht. Ihr Partner hilft bei der Abnahme und Entscheidung.

Das Foto sieht aus, als würden Sie auf einen Freier warten, das können wir nicht nehmen.

Naja, es gibt überall Schnittpunkte. Warum soll ein Mensch mit Behinderung nicht auch Erotik leben? Wir haben da einige Projekte gemacht zu diesen Themen. Selbstbestimmung von Frauen mit Behinderung und sexualpädagogische Konzepte haben mich immer schon interessiert.

Erst seitdem Sie selbst erblindet sind oder haben Sie sich da bereits vorher engagiert?

Seit ich selbst erblindet bin. Ich hab mich früher zwar auch gefragt, was für blinde Frauen schön ist oder was blinde Frauen erotisch finden, aber da war ich fast noch ein Teenie. Das war eher eine Neugierde. Ich hab mich gefragt, was kann denn da schön sein, wenn man es gar nicht sieht.

Was finden blinde Frauen erotisch?

Ich habe für ein Buch darüber mehr als 20 Frauen gefragt. Es kommt darauf an, ob jemand geburtsblind ist. Dann sind es eher Verhaltensweisen von Menschen, Stimme, Sprache, Worte, Einstellungen, die die Frauen schön und erotisch finden. Da ist es nicht in erster Linie interessant, was jemand für Kleidung trägt oder wie er sich gebärdet. Unwichtig ist es jedoch nicht. Weil ich mal gesehen habe, kann ich die optischen Attribute weniger gut ausklammern. Ich würde nie einen Menschen betrachten können, ohne mich dafür zu interessieren, wie er aussieht. Da bin ich vom Sehen „versaut“.

Wie kann man denn vom Sehen versaut sein?

Ich kann mein Beuteschema nicht vergessen. Ich weiß immer noch, worauf ich früher stand und ich habe immer noch Bilder im Kopf von vielen Dingen oder Männern, die ich mal gesehen habe. Die verblassen auch nicht. Deswegen kann ich mich nicht voll auf die Blindheit einlassen, weil ich immer auch die Optik brauche. Das Sehen hat mich so geprägt, dass es mich versaut hat fürs Blindsein.

In Ihren Interviews lassen Sie die Menschen sich selbst beschreiben. Wie nehmen Sie die Optik wahr? Wie im Film oft dargestellt – tasten Sie die Menschen ab?

Das machen blinde Menschen selten. Ich bin blockiert, wenn jemand mir das anbietet. Nicht einmal in meinem ganz engen Familienkreis mache ich das. Nur bei meinem Partner. Ich mache mir eher ein Bild, indem ich meine Vertrauten frage. Wenn ich fünf Leute frage, habe ich fünf verschiedene Eindrücke und kann mir daraus ein Bild basteln.

Sie haben vor etwa 20 Jahren Ihr Augenlicht verloren. Wodurch?

Durch Retinopathia pigmentosa, eine Erbkrankheit. Meine Augen sind intakt, nur die Netzhaut funktioniert nicht mehr. Man muss sich das wie eine Art Tunnelblick vorstellen, der sich immer mehr verengt. Irgendwann hab ich dann nur noch ein Stück Mund oder ein Stück Auge gesehen. Ich musste ein Gesicht am Ende Stück für Stück abscannen, um mir dann ein ganzes Bild zu bauen.

Die Krankheit hat begonnen bei Ihnen zu einem Zeitpunkt, wo das Leben gerade beginnt: Schule vorbei, Studium, Auszug zu Hause. Wie war das für Sie oder auch für Ihre Familie?

Niemand wusste im Vorfeld, dass ich das bekommen würde, deswegen konnte das auch niemand verhindern. Mitten im Erstellen meiner Diplomarbeit habe ich noch einmal einen richtigen Schub erlitten, bin erblindet. Da passte es gar nicht, aber eigentlich passt es nie. Es gibt nie den perfekten Zeitpunkt, um zu erblinden.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich war für alle stark: für meine Familie, für mich selbst. Es konnte keiner richtig zusammenbrechen, weil ich das Studium schaffen wollte. Ich habe Sozialpädagogik studiert und wollte in die Drogenarbeit gehen. Ich wollte Streetwork mit Drogenkids machen. Das passte dann nicht mehr. Wenn ich meine eigenen Klienten nicht mehr sehe und über meine Junkies stolpere –  ich hätte die Leute nicht betreuen können. Ich konnte im Studium noch einmal umschwenken, schon in Richtung Reha-Pädagogik. Es war für mich nie eine Option, zusammenzubrechen.

Sie sehen gar nichts mehr, keine Schatten oder noch ein bisschen Licht?

Ich hab so ein Geflacker vor Augen, das nennt man auch Phantomsehen. Das haben viele spät Erblindete. Das Gehirn kann nicht damit umgehen, dass keine Bilder mehr ankommen und gaukelt sich selbst Bilder vor. Das blitzt und blinkt und dann sehe ich Bilder, einen Baum oder ein Auto. Ich muss dann aufpassen, dass ich dem nicht ausweiche, weil das nur Phantome sind. Außerdem habe ich einen Tinnitus. Darum bin ich in Kulissen wie hier im Café schneller kaputt.

Die Krankheit verlief schleichend. Wie haben Sie sich darauf eingestellt, dass Sie erblinden würden?

Irgendwann funktionierten bestimmte Dinge nicht mehr. Ich konnte nicht mehr lesen, ich sah mich nicht mehr im Spiegel. Ich habe mit riesen-dicken Filzstiften geschrieben oder versucht, mich noch in einem großen Standspiegel zu sehen, bis das auch nicht mehr ging. Im Nachhinein ist mir erst aufgefallen, dass der Spiegel eines Tages im Keller verschwand. Also muss ich ja irgendwann gemerkt haben, mit allem Licht der Welt hilft das auch nichts mehr. Aber es kam nie der Punkt, wo ich gedacht habe, Mist, jetzt geht das auch nicht mehr. Ich hab immer weiter gemacht.

Welche Lösungen haben Sie noch gefunden?

Ich habe angefangen, Bücher zu schreiben darüber, was Blindheit und Erblindung bedeutet. Ich habe mit blinden Menschen gearbeitet und konnte sie oft an dem Punkt abholen, an dem sie gerade durchmachten, was ich bereits hinter mir hatte. Es hat ihnen Kraft gegeben, weil sie gemerkt haben, dass sie nicht allein sind.

Sie sind Ihre Krankheit mit dem Kopf angegangen.

Das ist nicht immer gut, weil sich Körper und Seele merken, was sie durchmachen. Irgendwann braucht ein Mensch eine Phase, wo er einen Bruch erleben und über das, was ihm geschieht, weinen darf. Zu viel Kopf ist auf Dauer nicht zu halten. Ich merke jetzt, dass ich Momente brauche, in denen die Seele zu Wort kommen darf.

Wie hat sich Ihr Alltag verändert während Sie Ihr Augenlicht verloren haben?

Weil ich so viel mit Sehenden zusammen bin, habe ich das sehende Leben mit gelebt. Eine richtige Blindenkultur habe ich nicht entwickelt. Wichtig ist für mich der sprechende Computer, weil ich damit einen Zugang zur Welt habe, zum Internet. Ich nutze ein Diktiergerät als Gedächtnis und Notizzettel. Wichtig war, dass ich den Stock annehme. Das ging am Anfang gar nicht. Da bin ich lieber über Tische und Bänke gegangen, als mit so einem Stock rumzulaufen. Ich habe mir eine Kleiderordnung im Schrank ausgedacht.

Wie sieht die aus?

Vieles hängt, damit ich alles ertasten kann. Erst die Kleider, dann die Röcke, dann die Kostüme. Ich würde nichts finden, wenn sich ein Sehender überlegen würde, ich sortier das mal um. Wenn ich ein bestimmtes Kleid in Schwarz und in Rot habe, dann bekommt das Rote eben einen Knoten im Gürtel, sonst verwechsle ich das.

Wer kauft mit Ihnen ein? Ihr Partner?

Wir sind ein gut eingespieltes Team, weil er einen Blick hat für Dinge, die ich mir nie kaufen würde. Er weiß aber ziemlich genau, was mir gefällt und kann eine Auswahl treffen. Wir sind gern in Städten und schauen uns Dinge an.

Sie schauen sich Dinge an?

Er führt mich irgendwo hin und lässt meine Hände das dann von oben bis unten abtasten. Wir sind auch schon angeranzt worden, dass wir doch bitte irgendwelche Deko nicht anfassen sollen. Ich fasse aber gern Schaufensterpuppen an, weil ich so Kombinationen begreife.

Sie wirken wie jemand, der sich hingezogen fühlt zur Wave-Gothic-Szene. War das schon immer so?

Früher war ich Punk. Für Ästhetik habe ich mich erst interessiert, als ich gar nicht mehr sehen konnte, was zusammen passt. Ich habe begonnen, mehr zu besprechen, zu erfragen und zu hinterfragen.

Wie machen Sie sich dann Ihr eigenes ästhetisches Bild?

Ich taste und höre. Über Gerüche nehme ich sehr viel wahr. Ich bin Duftsammlerin und wenn Menschen oder Situationen irgendwie riechen, dann speichere ich das ab.

Vor kurzem haben Sie die Sängerin Lucy van Org („Weil ich ein Mädchen bin“) interviewt. Wonach roch die?

Lucy riecht mystisch. Sie riecht gut, nach Met und Mittelaltermarkt, weil sie das ja auch so sehr liebt. Dann hat sie diese tollen, langen Haare. Es gibt auch Leute, die riechen für mich nicht gut, obwohl ich die optisch früher sehr spannend fand. In die war ich schwer verliebt und dann habe ich sie getroffen und gerochen und musste feststellen, dass ich denjenigen nasenmäßig gar nicht so gut ertragen würde.

In Ihren Interviews betonen Sie Sinnlichkeit und Emotionalität. Bringt das die Blindheit mit sich, dass sich der Fokus verschiebt oder ist das Ihre Sichtweise?

Manchmal erzählen Leute von ihren eigenen familiären Problemen, wenn sie einem blinden Menschen begegnen. Ich denke dann, bloß weil ich blind bin, heißt das doch nicht, dass ich ein offenes Tor bin für alle Problemfälle. Blinde Menschen empfinden das oft als Belastung. Der Effekt entsteht manchmal: Da ist jemand behindert und darum bestimmt offen für alle anderen sozialen Probleme, die es so gibt auf der Welt. Unabhängig von der Blindheit war ich aber immer schon ein tiefer Taucher. Ich philosophiere gern mit den Leuten. Ich bin ja nicht ohne Grund Sozialpädagogin. Ich bin aber kein besserer Mensch oder verständnisvoller, nur weil ich blind bin. Dazu fällt mir ein Spruch von Fanny van Dannen ein: „Auch lesbische schwarze Behinderte können ätzend sein.“

In ihren Büchern sprechen Sie viel von „innerer Beleuchtung“ und von „unsichtbaren Spiegeln“ – was meinen diese Sprachbilder?

Ich will erblindeten Menschen Mut machen, dass sie die Lichtschalter im Kopf anmachen können. Da gibt es keine Grenzen sondern viele Räume, die ich betreten kann. Jeder schafft sich so seine inneren Welten, unabhängig von Fremdbestimmung. Wie ich Dinge sehe oder wahrnehme, liegt an mir. Für mich ist Sehen eine Frage der inneren Beleuchtung. Die Spiegel wiederum sind entstanden aus dem Schmerz, den viele meiner erblindeten Rehabilitanden erlebt haben: Sie sehen sich nicht mehr und verlieren so ihre Identität. Wir haben viel daran gearbeitet, sich ein inneres Spiegelbild zu erschaffen. Wer bin ich? Wie wirke ich? Was macht mich aus? Was will ich nicht mehr? Wen brauche ich? Wen brauche ich nicht? Da sind innere Spiegel. Die Fragen kann mir mein äußeres Spiegelbild nicht beantworten. Viele Menschen schauen nur in ihre äußeren Spiegel und wissen nicht, wie sie klingen, welche Einstellungen sie haben, weswegen sie wie handeln oder was sie in der Welt bewirken.

Heißt das, Blinde haben ein tieferes Innenleben?

Wir sind gezwungen, uns mehr mit unseren Innenräumen zu beschäftigen. Das kann ein Vorteil sein, weil wir uns bestimmte Fragen stellen, die sich ein Sehender nicht stellen muss. Da verändern Dinge sich gravierend. Es stellen sich krasse Lebensfragen und Perspektiven ändern sich.

Wie sind Sie zum Fernsehen gekommen?

Das ist eine total unspannende Geschichte. In der Einrichtung, in der ich als Sozialpädagogin gearbeitet habe, hatte ich mein Büro. Das Kamerateam wollte ursprünglich blinde Menschen für eine Langzeitdokumentation begleiten. Dann haben sie aber Gefallen an mir gefunden und mir ein Konzept vorgeschlagen: Ich sollte Prominente treffen und aus Sicht einer Blinden befragen.

Sie schreiben außerdem Bücher. Woran arbeiten Sie gerade?

Gerade habe ich ein Buch zum Verlag gegeben: „Der Geschmack von Lippenrot“, ein Stilratgeber für blinde Frauen. Es geht um Schminktechniken, darum, herauszufinden, was für ein Typ ich bin, wenn ich mich selbst gar nicht sehe. Es geht aber auch darum, wie ich mich selbst stärken kann, mich selbst behaupten, um nicht in die Opferrolle zu geraten. Als Frau mit Behinderung bin ich ja schnell in diesem Klischee drin.

Wecken Sie denn so häufig den Beschützerinstinkt bei anderen?

Ich habe eher das Problem, dass ich nicht ausdrücken kann, wenn ich Hilfe brauche. Das führt dann eher zur Überforderung. Mein Buch soll aber auch sehende Frauen ansprechen, weil jeder seine blinden Flecken und Konflikte hat.

Was nervt Sie am meisten an Sehenden?

Mich nervt, wenn Menschen mit Behinderung ausgeschlossen werden, wenn sie nicht dabei sein dürfen, weil das System das einfach nicht zulässt, dass wir mitleben und mitmachen dürfen. Ich bin Tinitus-Patientin und ich wurde in verschiedenen Tinitus-Zentren nicht aufgenommen, weil sie kein Therapieprogramm hatten, das zugeschnitten war auf blinde Menschen. Als Inklusionsbotschafterin bin ich oft mit Dingen konfrontiert, bei denen ich merke, dass man Menschen mit Behinderung gar nicht erst reinlässt.

Auf welchen Gebieten?

In der medizinischen Versorgung sind viele Arten von Therapien einfach für Augenmenschen gemacht. Oft werden Hilfsmittel nicht bewilligt, weil jemand sagt, das ist nicht unbedingt nötig. Während des Studiums hat man mir gesagt, ich sei der Lautsprache mächtig und nicht auf Schriftsprache angewiesen. Deswegen habe ich keine Punktschriftmaschine bewilligt bekommen. Ich sollte mir praktisch merken, was ich in den Vorlesungen höre. Solche Geschichten erzählen mir Studenten heute noch. Auf meinen Sprachlaptop habe ich vier Monate lang gewartet. Das klingt erstmal nicht viel, aber ich konnte in den vier Monaten nichts machen. Ich bin journalistisch tätig, habe nebenbei noch ein Literaturstudium absolviert, musste Vorträge vorbereiten und die Behörde hat sich einfach nicht gemeldet. Wenn ich dann angerufen habe, haben sie mir gesagt: Notieren Sie sich mal diese oder jene Nummer. Und ich hab gesagt: Ich kann mir im Moment nichts notieren. Ich kann nichts lesen, nichts schreiben, ich hab keine Hilfsmittel. Das sind Alltagshürden, bei denen ich merke, wie abhängig ich von sowas bin. Wenn ich es habe, komme ich mir total frei vor. Wenn ich es dann aber nicht habe, hängt ganz viel an so einem blöden sprechenden Laptop.

Wünschen Sie sich Ihr Augenlicht zurück?

Ja, weil ich einmal sehen konnte. Vielen mit angeborener Behinderung geht das aber nicht zwangsläufig auch so.

Was würden Sie sich wünschen in einer idealen Welt?

Es wäre schön, wenn dieses Gefühl verschwinden würde, Mensch zweiter Klasse zu sein. Wenn ich wüsste, es entsteht nicht dieser komische Beigeschmack, wenn ich den Satz sage: Ich bin blind, ist das ein Problem? Mit Behinderung befasst man sich nicht so gern. Behinderung hat viel mit der Idee von Vergänglichkeit zu tun, hat viel mit Aufwand zu tun, denkt man. Dabei interessieren mich die Potenziale, die jeder Mensch mitbringt. Die meisten Behinderungen sind erworben. Die Menschen denken immer, es geht uns nichts an, aber es sind nur vier Prozent aller Behinderungen angeboren. Der Rest ist im Lauf des Lebens entstanden. Die kann niemand verhindern, weil niemand weiß, wen es – durch Unfälle, durch Erkrankungen – einmal treffen wird.

Wie hat sich Ihre Einstellung zum Leben verändert, seit Sie blind sind?

Ich plane nicht mehr. So viele Lebenseinschnitte und Wegänderungen sind bei mir im Lauf des Lebens eingetreten, dass ich Menschen nicht mehr verstehe, die sich so festochsen an ihrem Kleinklein. Ich habe so viele Menschen scheitern sehen an ihren Plänen. Sobald sich daran eine Schraube verstellt, funktioniert das alles gar nicht mehr. Man muss nicht jeden Tag naiv ins Leben taumeln, aber feste Pläne zu machen halte ich für unsinnig.

 

Das Interview führte Christina Wittich