Interview in der Städtischen Zeitung Stäz Halle Saale

Jennifer Sonntag: „Wir alle sind doch Kunst, gezeichnet vom Leben.“

(von Volly Tanner)


In Hal­le zu leben heißt sich Gedan­ken über die Stadt zu machen. Das ist nur natür­lich. Jen­ni­fer Sonn­tag, Inklu­si­ons­bot­schaf­te­rin und Auto­rin ist blind und sieht die Stadt dadurch auch durch eine sehr per­sön­li­che Per­spek­ti­ve. Trotz­dem fin­det sie die­se wun­der­voll bunt und eine wah­re Sin­nes­freu­de. Vol­ly Tan­ner sprach mit ihr über Bar­rie­ren, die Lie­be, Ero­tik, Bücher­ber­ge, Seh­ge­wohn­hei­ten, Fach­per­so­nal und Hal­le an sich.

Jennifer Sonntag (Porträtfoto) Jen­ni­fer Sonn­tag ist Inklu­si­ons­bot­schaf­te­rin der IG Selbst­be­stimmt Leben in Deutsch­land, Foto: privat/malsehen.media

Guten Tag, Jen­ni­fer Sonn­tag. Du bist Hal­len­se­rin und Inklu­si­ons­bot­schaf­te­rin der Inter­es­sen­ver­tre­tung Selbst­be­stimmt Leben in Deutsch­land. Was macht denn solch eine Inklu­si­ons­bot­schaf­te­rin den gan­zen Tag so?
Als Inklu­si­ons­bot­schaf­te­rin bera­te und berich­te ich rund um Bar­rie­re­frei­heit und Teil­ha­be für Men­schen mit Behin­de­run­gen. Grund­sätz­lich bin ich nicht gern die, die meckert, son­dern die, die macht. Zu mei­nen Auf­ga­ben gehört aber auch, Miss­stän­de auf­zu­zei­gen. Des­halb muss ich manch­mal, ganz gegen mei­ne fried­lie­ben­de Natur, etwas auf­rüh­re­risch wer­den. Ich arbei­te zu einem sehr gro­ßen Teil jour­na­lis­tisch, bie­te aber auch Vor­trä­ge, Semi­na­re und Work­shops inner­halb Mit­tel­deutsch­lands an. Dabei möch­te ich sowohl Men­schen mit Behin­de­run­gen ein­schlie­ßen als auch nicht­be­hin­der­te Inter­es­sier­te ein­la­den, auch das ist für mich Inklu­si­on. Ich bin Bot­schaf­te­rin für bar­rie­re­freie Medi­en­land­schaf­ten, enga­gie­re mich für Zugän­ge zu Kunst und Kul­tur, zu Bil­dung, zu Poli­tik, Gesell­schaft und zu gesund­heit­li­cher Ver­sor­gung. Im Rah­men mei­ner Tätig­keit arbei­te ich aber auch an ver­schie­de­nen Buch­pro­jek­ten zur Selbst­stär­kung Betrof­fe­ner. Ich befas­se mich gern mit Schö­nem, um das Unschö­ne bes­ser beim Kra­gen packen zu kön­nen. So wird im nächs­ten Jahr der Stil­rat­ge­ber „Der Geschmack von Lip­pen­rot“ erschei­nen, in wel­chem ich blin­de, aber auch sehen­de Frau­en dazu ermu­ti­ge, auf die Suche nach ihrem inne­ren Spie­gel­bild zu gehen.

Ich ken­ne in Fir­men abge­stell­te Mit­ar­bei­ter für Bar­rie­re­frei­heit, die haben noch nie mit einem ein­zi­gen behin­der­ten Men­schen gespro­chen und ande­re sind noch gar nicht bereit, sich die­sem The­ma über­haupt zu stellen.

Seit 2008 mode­rierst Du zwei mdr-Sen­dun­gen: „Selbst­be­stimmt! Leben mit Behin­de­rung“ und den Pro­mi-Talk „Sonn­tags­Fra­gen“. Denkst Du, dass das The­ma Leben mit Behin­de­rung aus­rei­chend in der Öffent­lich­keit wahr­ge­nom­men wird? Was kann noch getan werden?
Lie­ber Vol­ly, inner­halb der Sen­dung „Selbst­be­stimmt!“ mode­rie­re ich die „Sonn­tags­Fra­gen“, die es als Lang­fas­sung auch im Netz gibt. Mitt­ler­wei­le durf­te ich über 80 Pro­mi­nen­te auch zu den The­men: selbst­be­stimm­tes Leben, Dis­kri­mi­nie­rung, per­sön­li­che Ängs­te und Wim­pern­schlä­ge des Glücks befra­gen. Es ist berei­chernd, kon­ven­tio­nel­le Denk­räu­me zu ver­las­sen und ande­re Wahr­neh­mungs­ebe­nen zu betre­ten. Mein Mode­ra­to­ren­kol­le­ge bei „Selbst­be­stimmt“ ist Mar­tin From­me, der durch einen feh­len­den Unter­arm selbst auch gehan­di­capt ist. Wir sind zwei von ganz weni­gen behin­der­ten Medi­en­ge­stal­ten­den vor der Kame­ra. Das zeigt schon, dass die­ses The­ma lei­der noch immer ziem­lich unter­be­lich­tet ist. Die „ech­ten“ Men­schen mit Han­di­cap, die in der Fern­seh­land­schaft regel­mä­ßig vor­kom­men, kann man an einer Hand abzäh­len und die Sen­de­plät­ze sind auch oft eher „Rand­ge­biet“. Es wäre schon wün­schens­wert, wenn es allein hier mehr selbst­ver­ständ­li­che Begeg­nung und Bewe­gung, mehr Inklu­si­on und Inspi­ra­ti­on geben wür­de, denn von Viel­falt pro­fi­tie­ren letzt­lich alle, nicht nur inner­halb der Medi­en­land­schaf­ten. Gene­rell kann ich sagen, dass durch die Ver­ab­schie­dung des Bun­des­teil­ha­be­ge­set­zes viel in Bewe­gung gekom­men ist, dass es aber auch noch viel zu tun gibt. Wenn wir davon aus­ge­hen, dass jeder ach­te bis zehn­te Bun­des­bür­ger von Behin­de­rung betrof­fen sein wird, geht uns das The­ma alle etwas an. Ich ver­su­che in mei­ner Auf­klä­rungs­ar­beit so ein­fach wie mög­lich über mein Leben zu erzäh­len, in leben­di­gen Bei­spie­len, denn Ver­ständ­nis erreicht man nur über Geschich­ten und Gesich­ter. Kein Mensch möch­te sich aka­de­mi­sche Wäl­zer über Behin­de­run­gen durch­le­sen. Direk­te Kom­mu­ni­ka­ti­on ist ganz wich­tig. Ich ken­ne in Fir­men abge­stell­te Mit­ar­bei­ter für Bar­rie­re­frei­heit, die haben noch nie mit einem ein­zi­gen behin­der­ten Men­schen gespro­chen und ande­re sind noch gar nicht bereit, sich die­sem The­ma über­haupt zu stellen.

Du sel­ber bist blind. Wir lebt es sich als Blin­de in Hal­le? Wirst Du von den Zustän­den behindert?
Wenn man in einer Stadt lebt, ist ja das Wun­der­ba­re, dass man sie selbst mit gestal­ten kann. Als ich damals im Pro­zess der Erblin­dung steck­te, enga­gier­te ich mich z.B. mit einem Pro­jekt­team für die Braille-Gehe­ge­be­schrif­tun­gen des Hal­le­schen Zoos, beglei­ten­des Audio­ma­te­ri­al und Füh­run­gen für blin­de und seh­be­hin­der­te Besu­cher. Ich war lan­ge in Hal­le auch kul­tu­rell enga­giert, etwa im Neu­en Thea­ter, und infor­mier­te in unter­halt­sa­men Dun­kel­le­sun­gen über die Belan­ge blin­der Men­schen. Im Kunst­fo­rum Hal­le durf­te ich eine inklu­si­ve Aus­stel­lung zur ers­ten foto­do­ku­men­tier­ten Moden­schau mit blin­den Models unter­stüt­zen und gene­rell mit vie­len Künst­le­rin­nen und Künst­lern der Stadt zusam­men­ar­bei­ten. Über die­ses Medi­um las­sen sich Bar­rie­ren wesent­lich leben­di­ger the­ma­ti­sie­ren und auch aus­räu­men. Im fach­li­chen oder insti­tu­tio­nel­len Kon­text ist das lang­wie­ri­ger und schwer­fäl­li­ger. Da wer­de ich in der Tat oft behin­dert. Als Sozi­al­päd­ago­gin war ich ja selbst 16 Jah­re in einem hel­fen­den Beruf und habe sehr viel für Men­schen ermög­licht und um die Ecke gedacht. Auf­grund eines gesund­heit­li­chen Ein­schnitts war ich nun selbst auf Hil­fe ange­wie­sen und bekam zu spü­ren, wie stark man in vie­len Ein­rich­tun­gen noch mit der Blind­heit frem­delt. So wur­de ich zum Bei­spiel in Kli­ni­ken nicht auf­ge­nom­men, da „es kein Per­so­nal für eine Pati­en­tin ohne Seh­ver­mö­gen“ gab. Das hät­te ich nie­mals für mög­lich gehal­ten, hät­te ich es nicht selbst mehr­fach erlebt.

Ich habe ein wahn­sin­ni­ges Kopf­ki­no. Lite­ra­tur ohne Bil­der funk­tio­niert für mich irgend­wie nicht, aus­ge­rech­net als Blinde.

Ich ken­ne Dich als eine sehr fas­zi­nie­ren­de Auto­rin. Dabei beackerst Du auch das The­ma Ero­tik sehr inten­siv. Nun bist Du da ja weit mehr auf das Füh­len ange­wie­sen und das Schme­cken als ich als Augen­mensch zum Bei­spiel. Wie lässt Du Dein Sein in die Lite­ra­tur hinein?
Weißt du, was ziem­lich ver­rükt ist? Gera­de in mei­nen ero­ti­schen Tex­ten schrei­be ich sehr stark in Bil­dern. Oft sagen mei­ne Leser: „Wie kann denn das eine blin­de Frau geschrie­ben haben, sie weiß doch gar nicht, wie das alles aus­sieht!“ Ich habe ein wahn­sin­ni­ges Kopf­ki­no. Da ich ja über 20 Jah­re sehen konn­te, ist das bild­haf­te Schrei­ben für mich auch der Ver­such, das Sehen nicht zu ver­ges­sen. Aber es ist kein Krampf, die­se Sze­nen stel­len sich mir in einer Fül­le dar, so bunt, so reich, dass mei­ne Wor­te sich nur bedie­nen brau­chen. Im Gegen­zug litt ich schon manch­mal sehr dar­un­ter, Bil­der, Fotos oder Fil­me nicht mehr sehen zu kön­nen. Des­halb auch die inten­si­ve Zusam­men­ar­beit mit Foto­gra­fen. Durch den akti­ven Dia­log über Per­spek­ti­ven, Pro­por­tio­nen, Licht, Schat­ten und Wahr­neh­mung blieb ich immer Sehen­de. Mitt­ler­wei­le las­se ich etwas los, habe aber ange­fan­gen, mit mei­nem Buch- und Lebens­part­ner Dirot mei­ne inne­ren ero­ti­schen Bil­der mit Koh­le auf Papier zu zeich­nen. Lite­ra­tur ohne Bil­der funk­tio­niert für mich irgend­wie nicht, aus­ge­rech­net als Blin­de. Des­halb enga­gie­re ich mich seit Jah­ren auch für Bild­be­schrei­bun­gen für blin­de Men­schen, nicht nur in Aus­stel­lun­gen, in Bil­dungs- und Medi­en­kon­tex­ten, son­dern eben auch im Ero­tik­sek­tor. Ich habe eine tol­le Bild­be­schrei­be­rin, Fran­zis­ka Appel, die mei­ne ero­ti­schen Koh­le­zeich­nun­gen für Nicht­s­e­hen­de beschreibt. Jeder blin­de Mensch darf natür­lich für sich ent­schei­den, wie wich­tig ihm Bild­be­schrei­bun­gen sind. Wer sich für mei­ne ero­ti­sche Lite­ra­tur inter­es­siert und unse­re „Вlind-Gale­rie“ besu­chen möch­te, kann sehr gern auf www.Liebe-mit-Laufmaschen.de vor­bei schau­en. Aber Ach­tung, prü­de darf man nicht sein!

Im Netz gibt es Dei­ne Platt­form www.blindverstehen.de – um was geht es da kon­kret? Was fin­det der inter­es­sier­te Mensch da?
Auf die­ser Platt­form tra­ge ich mein etwas züch­ti­ge­res Kleid und stel­le mei­ne Pro­jek­te rund um den Erblin­dungs­pro­zess vor, obwohl ich auch dort für ein lust­be­ton­tes und sinn­li­ches Leben ste­he. Die Sei­te ist eine Ein­la­dung für sehen­de Besu­cher, die sich auf mei­ne Wahr­neh­mungs­welt ein­las­sen möch­ten. Aber sie soll auch Betrof­fe­nen Mut machen und Kraft schen­ken. Wir alle brau­chen ja manch­mal die­se inne­ren Licht­schal­ter. Ich stel­le auf der Sei­te mei­ne Medi­en­ar­beit, mei­ne Semi­na­re und mei­ne Bücher vor, auch die fach­li­chen Ver­öf­fent­li­chun­gen. Es gibt eine Hör-Bar und alle Kapi­tel aus mei­ner auto­bio­gra­fi­schen Aus­ein­an­der­set­zung „Ver­füh­rung zu einem Blind Date“, in denen ich gna­den­los ehr­lich erzäh­le, wie z.B. Flir­ten, Shop­pen und Sty­len blind funk­tio­nie­ren, wie man sich Far­ben vor­stellt und wie man träumt. Zum Glück habe ich mei­ne Gefüh­le damals doku­men­tiert, da ich mich heu­te aus bestimm­ten Pha­sen der Ver­ar­bei­tung heraus­ent­wi­ckelt habe, und immer, wenn ich mich in mei­ne erblin­den­den Kurs­teil­neh­mer ein­füh­len möch­te, lese ich in mei­nen eige­nen Büchern nach.

Man­che haben die mär­chen­haf­te Vor­stel­lung vom sehen­den Geschich­ten­er­zäh­ler, des­sen Lebens­in­halt es ist, der Blin­den am Prin­zes­sin­nen­bett die Welt der Sehen­den zu Gehör zu bringen.

Und pri­vat? Alles in Ord­nung? Du bist ja schon eini­ge Jah­re mit Dirot, dem Musi­ker und Schrift­stel­ler, liiert. Funk­tio­nierts pro­blem­los? Ist er ein Guter?
Er ist ein sehr Guter! Natür­lich ist er mensch­lich mein größ­ter Gewinn und krea­tiv mei­ne größ­te Inspi­ra­ti­on. Aber ich freu mich über die Fra­ge, weil wir an der Stel­le auch mit einer roman­ti­schen Vor­stel­lung auf­räu­men kön­nen und wol­len. Der sehen­de Part­ner ist nicht das Hilfs­mit­tel der Blin­den. Er hat ein eige­nes, sehr stres­si­ges Berufs­le­ben und das schil­lern­de Schrift­stel­ler- oder Band­da­sein hat natür­lich wenig mit dem All­tags­job eines Küchen­lei­ters zu tun, der jeden Tag 4.30 Uhr auf­ste­hen und für tau­sen­de von Men­schen kochen muss. Unser Krea­tiv­le­ben ist also immer der nöti­ge Kon­trast zum oft sehr vol­len All­tag. Manch­mal kom­men dann Leu­te und tür­men uns mit Büchern zu, die mir mein Part­ner vor­le­sen soll. Die haben dann die mär­chen­haf­te Vor­stel­lung vom sehen­den Geschich­ten­er­zäh­ler, des­sen Lebens­in­halt es ist, der Blin­den am Prin­zes­sin­nen­bett beim Wei­ne die Welt der Sehen­den zu Gehör zu brin­gen. Bei Ver­an­stal­tun­gen wird auch oft gedacht, mein Freund hät­te mich gestylt. Wenn ich Glück habe, bleibt jedoch vor Ver­las­sen des Hau­ses meist gera­de ein knap­per Lip­pen­stift­kon­troll­blick. Der Mann an mei­ner Sei­te ist lei­der nicht mein spre­chen­der Spie­gel und auch nicht mein Visa­gist. Lachen kön­nen wir mitt­ler­wei­le schon fast bei Behör­den, die glau­ben, er sei mein „Вetreu­er“. Die­se Rol­le täte einer Part­ner­schaft nicht wirk­lich gut. Ich habe zuge­ge­be­ner­ma­ßen oft ganz vie­le Fra­gen an mei­nen Part­ner, muss mich aber zurück­hal­ten und einen Zeit­punkt abpas­sen, der auch ihn nicht über­for­dert. Und ich muss auch die „Вehin­de­run­gen“ des ver­meint­lich Nicht­be­hin­der­ten akzep­tie­ren. Wir ver­heim­li­chen nicht, dass es da manch­mal durch­aus Rei­bung und auch Ver­zweif­lung gibt. Wir ach­ten dar­auf, uns klei­ne Ritua­le zu schaf­fen, die nur für uns bestimmt sind und nichts „mehr“ mit den Erwar­tun­gen ande­rer zu tun haben.

Ich las einen Bei­trag über Dich mit der Über­schrift: Blind auf Augen­hö­he. Das mach­te mich nach­denk­lich, weil ich mir da noch nicht wirk­lich dar­über Gedan­ken gemacht hat­te, dass da allein auf­grund des Seh­ver­mö­gens unter­schied­li­che per­sön­li­che Stel­lun­gen Norm sind. Wie kann man Men­schen stär­ken? Irgend­wie hat ja jeder­mensch irgend­ei­ne Ein­schrän­kung – ich zum Bei­spiel bin sehr behaart. Ist denn nicht jeder irgend­wie anders gleich?
Mein Tast­sinn kann sich gar nicht an so viel Haar bei dir erin­nern, aber mei­ne Fin­ger­spit­zen haben ja auch nur dei­nen Kopf gese­hen. Ja, genau auf die­se Schwer­punk­te möch­te ich in mei­nem neu­en Buch ein­ge­hen. Abzieh­bil­der und Kopi­en gibt es schon genug. Was wir an uns oft als Makel wahr­neh­men, kön­nen wir auch bewusst zu einem unse­rer Mar­ken­zei­chen erklä­ren. Unse­re indi­vi­du­el­le Signa­tur ist es, die uns aus­macht, wir soll­ten unse­re Poten­zia­le, unse­re Ein­zig­ar­tig­keit fei­ern. Das heißt nicht, dass man sich auf sei­ne Behin­de­rung redu­zie­ren soll­te, ver­ste­cken müs­sen wir sie nun aber auch nicht. Sie gehört dazu, viel­leicht wie ein schö­ner Schwung, eine Pati­na oder viel­leicht sogar ein cha­ris­ma­ti­scher Riss. Wenn wir nur immer den Makel, nur das Defi­zit in ihr sehen, dann erst lau­fen wir wirk­lich Gefahr, uns auf sie zu redu­zie­ren und unter ihr zu lei­den. Wir alle sind doch Kunst, gezeich­net vom Leben, das mei­ne ich ganz posi­tiv. Also, mich inter­es­sie­ren kei­ne Men­schen ohne „Macken“, im Innen, wie im Außen. In mei­nen Semi­na­ren möch­te ich mit Betrof­fe­nen an bestimm­ten Leit­sät­zen arbei­ten, die das Gefühl für die eige­ne Wür­de, für das eige­ne Selbst­wert­ge­fühl sta­bi­li­sie­ren. Manch­mal wirft es einen schon ganz schön zurück, wenn man mit Klein­ma­chern kon­fron­tiert wird, die einem etwas nicht zutrau­en, oder wenn das Gegen­über mit der Begleit­per­son spricht, nicht mit einem selbst. Oft wol­len auch ande­re am bes­ten wis­sen, was gut und rich­tig für uns ist. Das ist schwer für die Selbst­be­haup­tung und man ist oft auch abhän­gig von Kos­ten- und Ent­schei­dungs­trä­gern oder Ver­trau­ens­per­so­nen. Auch zieht es einen immer wie­der run­ter, wenn man an etwas nicht teil­ha­ben kann, weil es „für nor­ma­le Men­schen“ gemacht ist. Ich konn­te irgend­wann die Aus­sa­ge nicht mehr hören: „Ach Sie sehen gar nichts mehr, über­haupt nicht mehr? Na dann kön­nen Sie nicht teil­neh­men.“ Wir kön­nen es schaf­fen, aus der pas­siv lei­den­den, in eine aktiv gestal­ten­de Rol­le zu gelan­gen. Dazu müs­sen wir oft alte Mus­ter und fal­sche Glau­bens­sät­ze, die uns scha­den, durch­bre­chen. Ganz wich­tig dabei ist das Sta­di­um der Behin­de­rungs­ver­ar­bei­tung und das Wis­sen um die ein­zel­nen Pha­sen. Jeder, der eine gra­vie­ren­de Ver­än­de­rung, Krank­heit oder Behin­de­rung erlebt, durch­läuft die­se Pha­sen, und am Ende des Tun­nels ist immer Licht, wenn wir es nur wol­len. Zur Selbst­stär­kung von Men­schen mit Behin­de­rung habe ich inner­halb mei­ner Ver­an­stal­tun­gen „Die Schatz­kis­te“, „Die Glücks­schmie­de“ und „Das Power­pa­ket“ ent­wi­ckelt, die jeweils Ele­men­te aus der Reha­bi­li­ta­ti­ons­päd­ago­gik, der Trau­er­be­wäl­ti­gung und der Empower­ment­be­we­gung behin­der­ter Men­schen enthalten.

Was wünschst Du Dir von den poli­tisch Han­deln­den und Ent­schei­dun­gen tra­gen­den Akti­ven aus Halle?
Ich wün­sche mir, dass wir Men­schen mit Behin­de­rung mit an den Tisch kom­men und nicht über uns, son­dern mit uns ent­schie­den wird. Wir wol­len mit­ten­drin sein und nicht beim Platz­hir­sch­ge­r­an­gel Nicht­be­trof­fe­ner zuse­hen, die oft an den Belan­gen der Ziel­grup­pe vor­bei­ran­geln. Egal ob ich in mei­nen Ver­an­stal­tun­gen mit Schü­lern, Stu­den­ten oder Senio­ren sprach, Men­schen brau­chen lebens­na­he Begeg­nun­gen und Geschich­ten aus dem All­tag Betrof­fe­ner. Poli­ti­ker und Ent­schei­dungs­trä­ger sind da nicht anders, und auch sie ler­nen epi­so­disch und auto­bio­gra­fisch, sie brau­chen Sto­rys, die sie mit behin­der­ten Men­schen erle­ben. Nur so kön­nen sie sinn­vol­le Ent­schei­dun­gen tref­fen. Des­halb fin­de ich Bür­ger­nä­he immer eine wich­ti­ge Vor­aus­set­zung. Petra Sit­te ist mir da sehr posi­tiv auf­ge­fal­len, denn sie scheut sich nicht, bei Demons­tra­tio­nen mit­zu­lau­fen, einem die Hand zu schüt­teln – und das ist beim Blin­den nicht leicht, weil der sie ja erst­mal nicht sieht – oder über Braille­be­schrif­tun­gen auf Visi­ten­kar­ten nach­zu­den­ken. Fra­gen an Betrof­fe­ne sind ein wich­ti­ger Zugang, zum Bei­spiel: Wie kön­nen Sie blind über­haupt mei­ne E-Mails lesen? Ist unse­re Home­page bar­rie­re­frei? Wie bewäl­ti­gen Sie die Ampel­an­la­ge am Francke­platz? Was ich gern emp­feh­le sind Selbst­er­fah­run­gen: Hal­le unter der Augen­bin­de, mit Geräusch­ver­zer­rer, im Roll­stuhl oder im Alters­si­mu­la­ti­ons­an­zug. Die­ser Per­spek­tiv­wech­sel öff­net die Augen für Bar­rie­re­frei­heit. Eine unab­hän­gi­ge Teil­ha­be­be­ra­tung in Hal­le, bei der es dar­um geht, Hilfs­an­ge­bo­te auf die indi­vi­du­el­len Lebens­be­dürf­nis­se und Poten­zia­le von Men­schen mit Behin­de­run­gen zuzu­schnei­den, ist unent­behr­lich. Solan­ge die Inklu­si­on noch nicht voll­stän­dig in der Gesell­schaft und allen Sys­te­men ange­kom­men ist, wird es Spe­zi­al­ein­rich­tun­gen geben müs­sen. Für unse­re Stadt wün­sche ich mir Ein­rich­tun­gen mit qua­li­fi­zier­tem Per­so­nal, wel­ches über die not­wen­di­ge Sen­si­bi­li­tät für die Ziel­grup­pe ver­fügt. Das ist lei­der nicht selbst­ver­ständ­lich. Dar­auf soll­ten poli­ti­sche Ent­schei­dungs­trä­ger einen Blick haben. Der Reha-Markt ist lei­der auch ein Schlan­gen­topf. Mit uns kann man viel Geld ver­die­nen, aber auch viel Geld sinn­los ver­schleu­dern. Auch das Abgrei­fen von För­der­gel­dern an den Betrof­fe­nen vor­bei ist ein The­ma. Es exis­tiert aber auch ein wirk­lich gut aus­ge­bil­de­tes Netz­werk an qua­li­fi­zier­ten Ansprech­part­nern, zu denen ich gern wei­ter ver­mitt­le. Es ist immer beflü­gelnd auf­zu­zei­gen, wo Din­ge schon super funk­tio­nie­ren oder gemein­sam etwas zu bewe­gen. Das ist auch eher mei­ne Mis­si­on und lässt mich über die nega­ti­ven Gege­ben­hei­ten „hin­weg­se­hen“. Und es gibt natür­lich sehr enga­gier­te Ver­ei­ne, Selbst­hil­fe- und Akti­ons­grup­pen in denen sich Men­schen mit Behin­de­run­gen orga­ni­sie­ren und enga­gie­ren. Wir wol­len uns natür­lich nicht nur selbst etwas über Inklu­si­on und Anti­dis­kri­mi­nie­rung erzäh­len, son­dern im Stadt­bild sicht­bar sein und die­ses mit­ge­stal­ten. Unse­re „Graue Diva“ ist an vie­len Stel­len bereits wun­der­bar bunt, viel­fäl­tig und inklu­siv und eine wah­re Sinnesfreude.

Dan­ke, lie­be Jennifer.