Interview im Jungsheft / Giddyheft 

(von Nina Windisch) // 20. Ausgabe


Das Jungsheft ist ein im Selbstverlag erscheinendes Pornoheft für Mädchen.
Vielen Dank für die Bereitstellung der ausführlichen Interviewfassung

Jennifer Sonntag (36) ist mit Anfang 20 aufgrund einer Augenkrankheit erblindet. Die bezaubernd aussehende Sozialpädagogin hat ihre eigene Promi-Interviewreihe im MDR und einige erotische Bücher geschrieben.

Fragen an Jennifer Sonntag      

 

Worauf achtest Du zuerst bei Fremden?

Das kommt ganz darauf an, welche Sinneseindrücke ich einfangen kann. Stimme und Worte, die Sprechpersönlichkeit, die jedem ganz eigen ist,  wirken sehr stark auf mich, manchmal „schaut“ meine Nase auch nur sehnsüchtig einem geheimnisvollen Duft nach. Wenn ich mich von einem Menschen führen lasse, habe ich schon eine konkretere Vorstellung, von dem Stoff den er trägt, schließe auf seinen Stil,  seine Figur. Auch ein Händedruck verrät mir viel, wenn er sich anbietet. Ich lausche auf den Klang der Schuhe, auf Geräusche von Schmuckstücken. Eine positive Kommunikation und ein angenehmes zwischenmenschliches Agieren sind mir wichtig. Mein „erster Blick“ kann also manchmal nur ein Hauch von Nichts, aber auch ein ganzer Cocktail an Eindrücken sein.

Was findest Du sexy?

Es gibt Männer, auch Frauen, deren Einstellungen, deren Engagement, ich sehr attraktiv finde. Das Denken, Reden und Handeln von Menschen kann mich erotisieren, wenn es sich um Echtheit handelt. Aufgesetzte Typen stoßen mich ab. Ich mag Jungs mit Ecken und Kanten, eher die stillen und höflichen mit dem Hundeblick, die aber doch ganze Kerle sind und mit denen man seine Abgründe teilen kann. Wir fassen es mal mit „deep, dark, dirty“ zusammen.

Wie findest Du Menschen, denen Du vertraust? Stammen Deine Vertrauten noch aus der Zeit vor der Erblindung?

Das ist ganz unterschiedlich. Meine Familie und enge Freunde habe ich aus dem sehenden Leben mitgenommen. Einer meiner Vertrautesten ist mein Partner, den lernte ich erst nach meiner Erblindung kennen. Er war Keyboarder meiner damaligen Lieblingsband und betreute die Fanpost. So kamen wir uns näher, da ich regelmäßig per Mail nach Konzertterminen fragte. Durch Freunde, durch kreative Projekte, durch den Job, man trifft immer wieder auf Menschen, unter denen auch Personen sein können, denen man vertraut. Sehr oft geht es mir aber auch so, dass Leute sich mir im Unkehrschluss sehr schnell anvertrauen, da sie „die Blinde“ als eine Art Beichtvater betrachten. In der Rolle gefalle ich mir nicht. Ich suche Inspiration und Austausch auf „Augenhöhe“.

Behältst Du von Dir selbst das Bild, wie Du als 20-Jährige aussahst? Du siehst Dich ja nicht altern, wie fühlt man das Alter?

Ja, das ist so ein bisschen Fluch und Segen zugleich. In meiner optischen Erinnerung sehe ich natürlich aus wie mit Anfang 20, ich kann die Bilder ja nicht durch neue überspeichern. Der Verstand weiß sehr genau, dass dies nicht stimmen kann, aber wo her soll er wissen, wie ich jetzt aussehe. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie mein Gesicht und mein Körper jetzt wirken. Ich spüre, dass ich weiblichere Formen bekommen habe und wünsche mir so sehr, mich in verschiedensten Kleidungsstücken damit vor dem Spiegel beurteilen zu können. Den optischen Kontakt zu meinen Konturen habe ich verloren. Es passt überhaupt nicht zu mir, wenn mir jemand sagt, dass meine sieben grauen Haare mal wieder eine neue Ansatzfärbung bräuchten. Auch fühle ich mich nicht, als hätte ich Fältchen im Gesicht. Das ist Sache der Sehenden. Spüren kann man die im Moment noch nicht. Ich muss also mein Altern besprechen, auch die Wirkung meines Erscheinungsbildes. Es ist schwer, dafür einen festen Ansprechpartner zu finden, da Sehende oft damit überfordert sind, in die Funktion eines sprechenden Spiegels zu treten. Außerdem betrachten sie subjektiv, haben eigene Befindlichkeiten,  und so haben manchmal drei Vertrauenspersonen zu einem bestimmten Kleidungsstück drei verschiedene Meinungen. Ich bin dankbar für meine Beschreiber, bin aber auch froh, dass ich mittlerweile ein recht zuverlässiges inneres Spiegelbild habe. Ich stelle meine ja tendenziell eher außergewöhnlichen Outfits stets für mich im Kopf zusammen und „ließ“ mich nie anziehen. Vielleicht ist Stil ja wirklich im wahrsten Wortsinn „Gespür“.

Du gibst Schminktipps, organisierst Modenschauen für Blinde. Haben Dich diese „schmückenden“ Themen schon vorher interessiert oder sind sie erst spannend für Dich seit dem Du blind bist? Warum trägst Du meistens schwarz?

Tatsächlich wurde die optische Schönheit für mich erst nach der Erblindung so relevant. Als Sehende war ich Punkerin und rebellierte gegen die Kultur der Schönmenschen. Ich verbarg meine Weiblichkeit hinter Punkfetzen und interessierte mich nicht so sehr für mein Spiegelbild, vielleicht auch mit dem Bewusstsein, es irgendwann ohnehin zu verlieren. An all diese Werte wollte ich mich in der vom Verdrängen geprägten Lebensphase möglicherweise auch gar nicht zu stark heften. Aber natürlich hat auch eine Punkerin eine optische Identität und ich musste sehen können um zu wissen, welchen Trends ich mich verweigern wollte. Mit zunehmender Erblindung flüchtete ich mich in die schwarze Szene, besser, ich glitt über. Das tat meinem Rückzugsbedürfnis gut, meiner inneren Einkehr. Innerhalb dieser Szene wurden die Outfits dann betont weiblich, betont spiegelabhängig. Das gerade ging nicht mehr und ich setzte mich sehr sinnlich und intensiv gedanklich mit ästhetischen Grundsätzen auseinander. Ich begann auch engagiert mit Fotografen für Magazine zu arbeiten, lernte deren ganz verschiedene Handschriften kennen und verstand blind die sichtbare Schönheit mit einem ganz neuen, wertvollen Bewusstsein.

Seit 2008 interviewst Du in dem Format „SonntagsFragen“ Prominente im MDR. Wie kam es dazu?

Das Team überraschte mich damals in meinem Büro. Ich bin ja von Hause aus Sozialpädagogin. Ursprünglich war die Redaktion für eine Langzeitreportage auf der Suche nach drei erblindeten Rehabilitanden unserer Einrichtung, auf dem Weg zurück ins Arbeitsleben. Ich sollte eigentlich eher Vermittlerin der Protagonisten sein. Dann wurde alles ganz anders. Man mochte meine „Andersart“. Wir drehten mit mir ein Portrait auf dem WGT in Leipzig und dann kam ziemlich bald die Anfrage, ob ich mir vorstellen könnte, Promis aus der Sicht einer Blinden zu interviewen.

Welcher Promi hat die schönste Stimme? Wem kannst Du gar nicht zuhören?

Ich fahre ja total auf tiefe Stimmen ab, die ich im Bauch spüre. Manchmal durchspielen die meinen ganzen Körper. Es dürfen aber auch Stimmen wie Sekt sein,  die spritzig-intelligent ausführen können. Mit Namen bin ich da immer vorsichtig, da ich niemanden verletzen möchte. Es gibt aber tatsächlich Hörbücher, die ich weglege, weil ich die prominenten Sprecherstimmen nicht ertrage. Na, ein Positivbeispiel nenne ich. Mark Benecke höre ich sehr gern reden. Das fixt mein Gehirn an und durchlüftet meine Ohren.

In Deinem Buch „Liebe mit Laufmaschen“ kommen in einer Geschichte Blumenkübel in Form des männlichen Unterleibs vor – wie kommt man auf sowas?

Die falschen Drogen zur falschen Zeit! Nein, ich finde die Partie des Mannes sehr reizvoll, den Bereich, auf den es ankommt. Wer braucht denn den Rest? Von wegen, Frauen denken Ganzheitlich. Würde ich eine Skulptur schaffen, wäre es immer ein Knackarsch mit im wahrsten Sinne des Wortes herausragend ausgearbeiteter Vorderfront. Ich wüsste dann gar nicht, wo ich zuerst anfassen soll, hinten oder vorn. Ich bin ja nicht die Protagonistin der Geschichte, ich bin also ganz unschuldig, aber ich kann gut verstehen, dass die Dame in meinem Text das alles ziemlich lecker findet und ich hätte auch gern solche Blumentöpfe. Wobei, in Fleisch und Blut und mit Typ, der da am Hintern noch mit dran ist, kann das noch viel besser werden…

Seit wann beschäftigst Du Dich schriftlich mit dem Thema Sex?

Auf verschiedenen Ebenen bestimmt seit acht Jahren. Zunächst war das eher fachlich gefärbt. Ich befasste mich mit dem Erotikempfinden blinder Frauen und mit deren Körperbildwahrnehmung. Das sozialpädagogische Schreiben machte mich aber kreativ sehr unflexibel und ich entschloss mich in den letzten Jahren, mich dem Thema Erotik literarisch zu widmen. Schreiben ist für mich wie Sehen und ich kann mich durch meine Fantasien überall umschauen. Das macht mich sehr frei. Im Kopf kann ich nirgends drüber stolpern und kann Männer in sämtlichen Situationen meinen Blicken ausliefern.  Aber auch Frauen sehe ich gern, biete sie mir dar. Aber das ist natürlich nicht der alleinige Grund, warum ich Bücher veröffentliche, nur ein schöner Nebeneffekt.

In einer Geschichte gibt eine Frau vor blind zu sein und wird es durch einen Unfall schließlich tatsächlich. Ist das eine Botschaft in die Richtung: Mit dem Blind-Sein spielt man nicht?

Das ist eigentlich viel verrückter. Mich schrieb eines Tages ein sehr niveauvoller junger Mann an, der in einer Szene verkehrte, in der Menschen es sexuell reizvoll finden, Behinderungen zu simulieren. Für mich war das anfangs sehr befremdlich, bin ich doch im echten Leben blind und erotisch ist das für mich nicht gerade. In dieser Szene versieht man sich also bewusst mit einem Handicap, reist in fremde Städte und sucht dort als „Behinderter“ zwielichtige Erlebnisse. Das kann sehr gefährlich sein, wenn man sich z.B. durch spezielle Kontaktlinsen sehunfähig macht und unter die Räder kommt. Dieser junge Mann berichtete mir auch, dass eine der Aktivistinnen in der Szene tatsächlich einen Unfall erlitt. Allerdings weiß ich nicht, welche Behinderung sie simulierte. Sie distanzierte sich danach von diesen Fetischisten und wurde Kritikerin. Ich wollte mit dem Text nicht werten, das darf jeder für sich allein.

An einer anderen Stelle beschreibt die Liebe sich als eine Form der Abhängigkeit, des Einander-Brauchens. Wie gehst Du damit um? Fühlst Du Dich in Deinem Alltag und in der Liebe unabhängig?

Es gibt ja einen Unterschied zwischen Selbstbestimmung und Selbstständigkeit. Ich bin ein sehr selbstbestimmter Mensch, wenn ich auch nicht alles selbstständig erledigen kann. Aber das kann auch ein Sehender nicht in sämtlichen Lebensbereichen. Ich beobachte oft bei sehenden Paaren ganz merkwürdige Abhängigkeiten, die ich nie aushalten würde. Ich bin ehr von anderen Dingen abhängig, die nichts mit diesem Versorgerding zu tun haben: von guter Kommunikation, emotionaler Nähe, einem Partner, der Geist und Körper flasht.

In einem Text heißt es: „Es gibt nichts abgrundtief Ehrlicheres als die Neigung eines Fetischisten.“ Glaubst Du, jeder Mensch hat einen Fetisch? Und wie steht es mit dem Fetisch mit einem blinden Menschen Sex zu haben? Versuchst Du das zu entlarven oder kannst Du das zulassen?

Ich glaube, wir alle reagieren auf bestimmte Trigger. Jeder ist irgendwie geprägt und springt auf etwas mehr oder weniger an. Manchmal macht es Spaß, das im Einzelnen zu ergründen, manchmal ist es auch egal, weil man es nicht immer erklären können will oder muss. Warum mögen wir bestimmte Nasen, bestimmte Hälse, bestimmte Schultern oder Haarfarben, Stimmen, Worte, Bewegungen, Verhaltensweisen und finden andere abstoßend? Ich bekam zahlreiche Reaktionen auf mein Buch „Hinter Aphrodites Augen“, worin ich blinde Frauen über ihr Schönheitsempfinden zu Wort kommen ließ. Auch die sehr ehrliche Rückmeldung eines Fetischisten erreichte mich, der sich dazu bekannte, erotische Fantasien mit blinden Frauen zu haben. Seine blinden Frauen sollten aber möglichst entstellte Augen haben. Fand ich kurz anmaßend, es war dann aber vollkommen okay für mich. Meine Augen sahen ihm zu unblind aus. Ich steh ja auch manchmal auf die seltsamsten Dinge. Fetischismus mit all seinen Ausformungen begegnete mir seit meiner frühen Jugend auch in Ablegern der Subkulturen, in denen ich mich bewegte. Ich bin da ein sehr neugieriger Mensch, solange keiner unfreiwillig zu Schaden kommt. Für mich selbst und meine Partner kam aber nun ausgerechnet der Blindenfetisch innerhalb unserer Beziehungen nie in Frage. Da fanden wir andere Sachen wesentlich reizvoller.

Hörst Du Dir Pornos an? Und gibt es spezielle Pornos für Blinde?

Ich mag erotische und pornografische Literatur. Natürlich kann die keinen klassischen Porno ersetzen, auch keine erotischen Bilder. Ich wünsche mir seit Jahren in Deutschland eine blindenfreundlichere Pornolandschaft, auch wenn natürlich nicht jeder blinde Mensch damit etwas anfangen kann und will. So ist es ja auch bei den Sehenden. Aber es gibt durchaus erblindete Menschen, die früher Konsumenten waren und für die Literatur keine Alternative ist. Mich persönlich würde auch der „Pornobedarf“ geburtsblinder Menschen interessieren, die sich eine ganz andere, nicht visuelle Verknüpfung schaffen. Audiodeskriptionen, also Hörfilme, auf anbietbaren Niveau, gibt es in vielen Sparten, in diesem Bereich jedoch noch nicht. Der Blinde bekäme hier über den zugeschalteten Beschreiber das Filmgeschehen erläutert. Hörspiele sind mir persönlich zu unecht. Ich würde dann schon authentischen Sex hören wollen und da kann man uns ohne Bilder viel vormachen. Ich mag auch generell keine synchronisierten Filme. In erotischen Zusammenhängen irritiert mich der Gedanke an ein Tonstudio. Neulich sah ich einen Film über zwei Polizisten, die gleichgeschlechtlich aneinander, oder besser  gesagt, ineinander geraten waren. Das war ein ganz normaler Fernsehfilm und es ließ sich über den Zweikanalton die Audiodeskription für Blinde zuschalten. Fand ich schon mal nicht schlecht für den Anfang…

Und am Schluss noch eine neugierig naive Frage: Woran merkst Du, dass Du Deine Tage hast?

Blinde haben doch so was gar nicht… Nein, Spaß! So sehr man Schmerzen hasst, hier können sie ein guter Hinweis sein. Schmerzt es nicht zuverlässig, verbraucht man auch schon mal ne Packung Tampons vergebens, weil die ganze Zeit gar nichts war. Sehr frustrierend! Notfalls müssen die anderen Sinne helfen. Frau darf da kreativ sein…